geb. 1924 in Wernrode / Thüringen
lebt in Münster
"Die Logik von Janssens' Bildern ist alles andere als eine "universale", ausgeführt in konzeptueller Konstruktion geometrischer Bezugssysteme. Vielmehr zeigt sich das Bildgerüst in jedem Werk als ein individuell gefundenes. Dafür benötigt Janssens die Gegenstände: daß sie zu besonderen, unvorhersehbaren, aus keiner Systematik zu entwickelnden "konkreten" Bild Konzepten anregen. Er spürt dem einfachen, bedeutungslosen Gegenstand nach, meist einem begrenzten und leicht in die Fläche zu "legenden" Gebilde, bis der Funke überspringt zu etwas ganz anderem: einem rein malerischen Konstrukt. Er findet es, so unwahrscheinlich das zunächst klingt, auf ganz altertümliche Weise: von der Natur."
Klaus Bussmann
Direktor des Landesmuseums für Kunst- und Kulturgeschichte, Münster
Lebenslinien
Anstelle einer Biographie
Von WULF BECKER-GLAUCH
Bei dem Menschen und seinen Möglichkeiten fängt es an. Erkenntnis der Möglichkeiten und Grenzen ist auch die erste künstlerische Aktion. Linien, versucht und wieder verworfen, Versuche über Versuche, Skizzen, Entwürfe, Augenblicke, in denen es gelingt, ein Stück Welt im Kern zu treffen, mit Linien zu beschreiben.
Sie erinnern vielleicht den Maler Michailow aus Anna Karenina. Sein Schaffen drehte sich um ein einziges Bild. Sein Urteil über das entstehende Werk stand fest. Niemand habe etwas Ähnliches geschaffen.
In einer Reihe von Versuchen mit dem gleichen Motiv kann es geschehen, daß der schon erreichte Höhepunkt sich in den folgenden Blättern verflüchtigt. Das Schriftbild verwackelt. Manchmal ist es
einem, als kreisten alle Versuche Janssens' wie bei Michailow um ein einziges, unsagbar großes Bild, das uns aber vorenthalten wird, Janssens' Weltbeschreibung.
Man muß sie lesen können, diese bunte Bilderschrift. Schriftzeichen, von der Farbe in Schwingung versetzt. Farben, von der Schrift gebunden. Die Farbe erleichtert die Lektüre. Sie legt die Dankbarkeit
an den Tag, sie zeigt die Freude. Dankbarkeit für die Welt, Freude über die Menschen, Tiere, Pflanzen, Dinge. Sie sind weit zurückgeholt von ihrer täglichen Oberfläche, reduziert auf ein paar lumpige Schriftzeichen, die übrig bleiben. wenn man nur lange genug aushält.
Also nicht Abstraktion, sondern Reduktion. Wenige Bildzeichen, eine Bilderschrift, finit der sich die Mannigfaltigkeit der Welt bei Namen rufen läßt. Eine ethymologische Untersuchung, die auch die Brüder Grimm mit großem Interesse verfolgen würden. Es gibt da ein gemeinsames Zeichen für Perlblüten, Perlhuhn. Augenperlen. So wie alphabetisch im „Ort" das "Tor" mitschwingt und „rot". Auch wer mit Bildzeichen schreibt. ist bereit, sich von Sprache belehren zu lassen. Oder denken wir an den Reim, der Beziehungen zwischen Worten aufdeckt, dann stoßen wir bei Janssens immer wieder auf den Bilder¬reim der Dinge. Er lehrt uns sehen, wie die Dinge der Form nach und formelhaft zusammengehören. So tief hat sich der Künstler von uns entfernt, so vernehmlich sprechen seine Linien.
Da es schwierig ist. mit der Linie einen Anfang zu machen, wählt Janssens häufig etwas Vorgeformtes, schon Liniertes, etwa den Zaun und den Stuhl, den Brunnen und die Räder oder gar ein Gewölbe, eine Pagode, dann aber auch Bewegungen, die sich recken und strekken und über sich hinausweisen. Der zweite Versuch wird unter Verzicht auf Farbigkeit häufig graphischer als der erste, wie bei den Rädern.
Alles in allem kommt bei der Reduktion auf lineare Grundmuster etwas Einfaches heraus. In einer Zeit, die unsere Netzhaut mit pseudokulturellen Angeboten überreizt, ist die Lektüre von Janssens' Bildern eine heilsame Lektion. Ihre Einfachheit ist nicht simpel. Sie geht aus komplizierten Verhältnissen hervor. In ihr ist viel enthalten. Die Mannigfaltigkeit des Gegenständlichen und Konkreten geht darin nicht verloren. Die Reduktion ist gleichsam eine musikalische Engführung. Sie wendet sich dann zu den Gegenständen zurück, um ihnen ihre Urform mitzuteilen. Und Wirklichkeit findet sich befreit vom Zwang der Klischees und Fassaden, der ihr in unserer Zeit angetan und angesehen worden ist. Übrigens ist das Einfache bei Janssens auch so einfach, daß Form und Inhalt sich nicht von zwei verschiedenen Seiten betrachten lassen.
„Linea" bedeutet nicht nur die Leine, die Schnur und mit der Schnur den Strich, die Linie, den Umriß, die Skizze, den Entwurf, sondern eben auch das Ziel, das Ende. Wer sich auf die Linie einläßt, gerät mit ihr unweigerlich ins Labyrinth, der muß sehen, daß er durchs Labyrinth hindurchkommt. Aber er hat ja zugleich die Linie als Leitfaden, als Ariadnefaden. Oder als Richtschnur. Er kann sich anhand der Linie durchwinden. Die Zimmerleute färben die Schnur und lassen sie auf einen Balken schnellen. Kunst bringt das Chaos der Welt in Ordnung. Janssens, Jahrgang 1924, hat das Chaos auf eine besondere Weise erlebt. Mit seinen Linien fand er durch das Labyrinth hindurch.
Aus der Rede zur Ausstellungseröffnung in der Galerie Clasing. Münster, anläßlich des 50. Geburtstages von Wijnand Janssens am 2. März 1974